Epilepsie in Afrika

[aus ZAK 17] Wie auch in anderen Teilen der Welt, wird Epilepsie in Afrika häufig als etwas aufgefaßt, das plötzlich über einen kommt, von einem Besitz ergreift, einen „anfällt”.

Dies ist wohl für jeden nachvollziehbar, der einmal Zeuge eines tonisch-klonischen Anfalls war. Aus der Sicht des Beobachters mag die Person, die einen Anfall erleidet und sich währenddessen entgegen aller gesellschaftlichen Verhaltensregeln verhält, in der Tat „wie ausgewechselt” sein, jemand anders sein oder von etwas anderem, das von ausserhalb kommt, kontrolliert werden.

Solche Vorstellungen waren und sind auch in der westlichen Welt nicht fremd; man denke etwa an das vom alt-griechischen Zeitwort epi-lambánein (dt., „anfassen, befallen”) stammende Wort „Epilepsie”, an das deutsche Wort Anfall oder auch an das englische seizure. Was nun eine Person „anfällt” und einen epileptischen Anfall verursacht, wird recht unterschiedlich gedacht und hängt unter anderem eng mit dem jeweiligen Weltbild zusammen. Hexerei, verärgerte Ahnengeister, übelwollende Dämonen und Geister oder der „böse Blick” sind nur einige der Erklärungsmodelle für Epilepsie in dieser Hinsicht.

Gefährdet für solche Heimsuchungen sind besonders solche Personen, deren Körpergrenzen „durchlässig” geworden sind, oder ganz allgemein gerade geringe Widerstandskraft besitzen. Das kann z.B. während und nach einer Geburt der Fall sein, nach einem traumatischen Erlebnis (z.B. Tod einer geliebten Person, Todesangst, großer Schrecken) oder nach moralischen Verfehlungen.

Die Therapien in diesem Zusammenhang zielen demnach darauf ab, diese krankmachenden Substanzen, Kräfte oder Entitäten aus dem Körper des Erkrankten wieder zu entfernen und die Grenzen des Körpers zu festigen, um weitere „Invasionen” zu verhindern. Schamanistische Séancen, religiöse Reinigungsrituale, Opferrituale, aber auch das Schröpfen und abführend wirkende Heilpflanzen werden hierbei besonders häufig verwendet. Der Umgang mit Epilepsie und Epilepsiekranken gilt weithin als gefährlich. Mit mächtigen Dämonen oder Hexern läßt sich nicht spaßen und nur mindestens ebenso mächtige HeilerInnen können es mit ihnen aufnehmen. Was eine Person „anfallen” kann, mag nur allzu leicht auch auf andere Personen übertragen werden.

Diese Vorstellung von Epilepsie als ansteckende Krankheit ist eine der Hauptfaktoren für die starke Stigmatisierung von Epilepsiekranken nicht nur in Afrika. Besonders fatal sind diese Ansichten für Patienten, wenn sie während eines Anfalls ins offene Herdfeuer stürzen. Da schäumender Speichel oft als besonders ansteckend gilt, ist kaum jemand bereit, die krampfende Person aus dem Feuer zu ziehen. Diese Umstände sind unter anderem mitverantwortlich für die hohe Sterblichkeitsrate von Epilepsiekranken. Schwere Verbrennungen sind bei Epilepsiekranken so häufig, daß Epilepsie mitunter auch als die „Verbrennungskrankheit” bezeichnet wird. Von traditionellen Heilern ebenso wie von schulmedizinischem Personal werden massive Verbrennungen manchmal sogar als Diagnosekriterium für Epilepsie herangezogen.

Bei den Baganda in Uganda werden Krankheiten danach eingeteilt, ob sie natürlichen Ursprungs sind oder durch Hexerei verursacht werden, ob sie stark oder schwach sind, und ob sie Kiganda (einheimisch, indigen) oder nicht-Kiganda (von arabischen oder europäischen Eroberern mitgebracht) sind. Epilepsie (ensimbu) gilt als starke Kiganda Krankheit, die von einem Hexer oder einer Hexe geschickt wird. Sie gilt demnach mittels der westlichen Schulmedizin als nicht heilbar, da diese nur bei nicht-Kiganda Krankheiten für wirksam gehalten wird.

Epileptische Anfälle werden als durch eine Eidechse verursacht gedacht, die im Kopf des Leidenden wächst und schon seit der Geburt vorhanden sein kann, oder von einem Hexer geschickt wird. Da die Eidechse im Kreis läuft, ruft sie beim Patienten Schwindel hervor und löst so den Anfall aus. Zur Entfernung der Eidechse wenden traditionelle Heiler in Heilritualen das Schröpfen an. Epilepsie gilt bei den Baganda als ansteckend. Deshalb müssen Epilepsiekranke separat essen und schlafen, dürfen nicht mit anderen Kindern spielen und haben kaum die Möglichkeit zu heiraten. Diese soziale Isolation macht die Auffassung von Epilepsie als „Verdorbenheit des Gehirns” zu einer sich „selbsterfüllenden Prophezeiung”.

Auch bei den Bamileke, die in Kamerun leben, gilt Epilepsie (nwaa) als ansteckend und als das Werk von Hexen. Nwaa (dt., „eine Person auf den Boden werfen”) wird mit einer Übersättigung des Magens mit Schaum in Verbindung gebracht. Dabei steigt der überschüssige Schaum in den Kopf des Patienten und löst den Anfall aus. Die Überproduktion von Schaum kann neben Hexerei auch durch Ahnengeister und Flüche verursacht werden. Anschuldigungen der Hexerei sind besonders unter den mehreren Ehefrauen eines Patriarchen häufig, falls ein Kind einer Frau unter epileptischen Anfällen leidet. Neben schamanistischen Séancen beinhaltet die Behandlung von epileptischen Anfällen Nahrungsvorschriften, welche die Überproduktion von Schaum verhindern sollen. Wie auch in anderen Teilen Afrikas werden Verbrennungen oft als Indiz dafür angesehen, daß das Leiden unheilbar geworden ist.

Eine Studie, die in Nigeria durchgeführt wurde, streicht im besonderen den Aspekt von Epilepsie als Ansteckungskrankheit heraus. Als riskant wird das gemeinsame Essen und Trinken aus dem gleichen Eßgeschirr mit Epilepsiekranken gehalten, insbesondere aber der Kontakt mit dem Speichel und jeglicher physische Kontakt mit dem Kranken während eines Anfalls. Bemerkenswert ist, daß nach dieser Studie auch 40% der Medizinstudenten in ihrem dritten Studienjahr Epilepsie für eine ansteckende Krankheit hielten.

Für Malawi gibt es Berichte, nach denen ein Insekt als Verursacher von Epilepsie betrachtet wird, welches sich im Magen des Patienten bewegt und Anfälle hervorruft. Als Behandlung werden Wurzelextrakte benutzt, die Erbrechen auslösen und so das Insekt aus dem Magen entfernen sollen. Bei den Wapogoro, einer in Tansania lebenden Gruppe der Bantu, ist Epilepsie unter dem Namen Kifafa bekannt (dt., „halbtot sein” oder „steif sein”) und als Krankheit gefürchteter als Lepra, eine in Afrika ebenfalls weit verbreitete Krankheit.

Im Gegensatz zu Epilepsie gilt Lepra bei den Wapogoro jedoch nicht als ansteckend. Jilek & Jilek, die in Tansania seit den 60er Jahren immer wieder sozialwissenschaftliche und medizinische Forschungen durchgeführt haben, führen die Vorstellung von Epilepsie als Ansteckungskrankheit auf eine Gleichstellung von Epilepsie mit Tollwut zurück. Tollwut, deren Symptome ebenfalls Krämpfe und Schaum vor dem Mund beinhaltet, ist — so die Autoren — gerade in solchen Gebieten ein häufiges Leiden, wo Epilepsie als besonders ansteckend gilt. Als Hauptursache für Epilepsie gilt die Besessenheit durch böse Geister, die von einer Person zur nächsten springen können und auf diese Weise die Krankheit verbreiten.

Eine Kröte, die durch Hexerei in den Körper des Verhexten verpflanzt wird, gilt ebenfalls als anfallauslösend. Weiters werden inner familiäre Konflikte, Unglücklich sein, Kopfverletzungen und das sich Herumdrehen im Kreis für das Entstehen von Epilepsie verantwortlich gemacht. Als Vorsichtsmaßnahme sollen sich Kinder im Spiel nicht im Kreis drehen, um auf diese Weise Schwindelanfälle zu vermeiden. Verboten ist auch, Fischadler zu jagen, da seine Jagdtechnik, sich plötzlich auf die Beute herabzustürzen, der Plötzlichkeit eines epileptischen Anfalls ähnelt.

Neben Ritualen, welche die bösen Geister wieder austreiben sollen, werden auch bestimmte Pflanzen als Brechmittel verwendet, die ein Erbrechen der Kröte bewirken sollen. Diese therapeutischen Maßnahmen beziehen die ganze Familie des Patienten mit ein und dauern bis zu einem Jahr. Während dieser Zeit soll der Patient Streß und Alkohol vermeiden.

Bernhard Hadolt
Der Autor ist Lehrbeauftragter für „Medical Anthropology” an den Universitäten Wien und Innsbruck und beschäftigt sich unter anderem seit Jahren mit den soziokulturellen Aspekten von Epilepsie in Österreich
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