Epilepsie in Indien

[aus ZAK 17] Wie in Europa ist Epilepsie auch in Indien seit Alters her bekannt. Seit etwa dem achten vorchristlichem Jahrhundert finden sich in den alten ayurvedischen Schriften Indiens Aufzeichnungen über Symptomatik, Ursachen, Diagnose und Behandlung von Epilepsie. 

Die ayurvedische Medizin gehört zu den sogenannten Humoraltheorien (manchmal auch als „Säftelehren” bezeichnet), die in anderer Form auch in Europa bis ins 17.Jhdt das medizinische Denken geprägt haben. Ayurveda basiert auf der Theorie, daß der gesamte Kosmos aus fünf Elementen aufgebaut ist, die in ihren unterschiedlichen Zusammensetzungen jegliches Belebtes und Unbelebtes formen.

Die Konstitution von Menschen wird durch die Zusammensetzung dreier „Säfte” (lat., humores) bestimmt, die ihrerseits Produkte eines bestimmtes Mischungsverhältnisses der fünf Elemente sind. Solange sich die jedem Menschen eigentümliche Zusammensetzung dieser drei „Säfte” (die dosas) im Gleichgewicht befindet, geht es dem Menschen gut. Geraten sie aber aus der Balance, entstehen Krankheiten.

Die Kunst des ayurvedischen Arztes ist es, die für jeden Menschen charakteristische Mischung der „Säfte” zu erkennen und im Krankheitsfall die richtige Balance wiederherzustellen. Diätische Maßnahmen und eine Vielzahl von Medikamenten nehmen dabei eine besondere Rolle ein, aber auch reinigende Mittel, Kauterisation, Massagen, Bäder oder Aderlässe werden hierfür genutzt. Die ayurvedische Medizin kennt vier Typen von Epilepsie. Dies unterscheidet Ayurveda von den meisten anderen Teilen der Welt, wo unter Epilepsie meist nur der Typus mit tonisch-klonischen Anfällen verstanden wird.

Entsprechend den ayurvedischen Prinzipien können epileptische Anfälle entstehen, wenn die „Dosas” in Unordnung und aus dem Gleichgewicht geraten. Das ist insbesondere der Fall, wenn Ernährungsregeln nicht eingehalten werden, wenn Nahrungsmittel mit widersprüchlichen Eigenschaften zusammen gegessen werden oder von „unreinen” Personen (z.B. Leprakranken oder Personen, die niederen Kasten angehören) berührt worden sind. Infolge eines allgemein ungesunden Lebenswandels und während großer Schwächezustände können ebenfalls epileptische Anfälle auftreten.

Die dosas sammeln sich dabei übermäßig im Herzen, dem Sitz der Seele, wo sie eine Überstimulation von Emotionen verursachen, was wiederum Anfälle hervorruft. Die Behandlung zielt demnach darauf, die durch die dosas blockierten Herzkanäle zu öffnen, die dosas auf ihr übliches Maß zu reduzieren und in ihren Gleichgewichtszustand zurückzuführen. Neben speziellen Diäten und Medikamenten kommen dabei auch Massagen, Bäder und Aderlaß zur Anwendung. Die ayurvedische Medizin, die in Indien an eigenen Universitäten gelehrt wird, ist nur eine, wenn auch sehr wichtige Medizintradition in Indien.

Neben der westlichen Schulmedizin gibt es eine Reihe von anderen Heilern, die unter anderem auch Epilepsie behandeln. Patris z.B. fungieren als spirituelle Medien, die erlauben, während Trance von ihren Hilfsgeistern besessen zu werden, welche ihrerseits dann die Diagnose des jeweiligen Übels vornehmen und die bösen Geister beschwichtigen. Mantarwadis rezitieren heilige Verse, um Epilepsie, die als Strafe für Missetaten in der Vergangenheit gilt, zu heilen.

Bernhard Hadolt
Der Autor ist Lehrbeauftragter für „Medical Anthropology” an den Universitäten Wien und Innsbruck und beschäftigt sich unter anderem seit Jahren mit den soziokulturellen Aspekten von Epilepsie in Österreich.